vom 26.2.2011

Die neue "Tante Emma" gehört allen Dorfbewohnern
In mehr als der Hälfte der Gemeinden ist die Lebensmittelversorgung gefährdet / Dorfläden als Alternative

Von unserem Redaktionsmitglied
Rainer Haendle

Karlsruhe/Sinzheim. Erst schließt das letzte Lebensmittelgeschäft, dann zieht der Arzt weg, die Grundschule wird dicht gemacht, Post und Bank geben ihre Filialen auf. Die Verödung von Dörfern und kleinen Teilorten nimmt vor allem im Osten Deutschlands rasant zu, doch auch der reiche Südwesten bleibt nicht verschont. Nach Expertenschätzungen ist die Nahversorgung in mehr als der Hälfte der Gemeinden Baden-Württembergs akut gefährdet. "Wir brauchen neue kreative Konzepte im Einzelhandel", sagt Gabriele Ostertag von der Gesellschaft für Markt- und Konsumforschung (GMA).

Einer dieser dahinsiechenden Orte war Leiberstung, ein zu Sinzheim zählendes Straßendorf mit 870 Einwohnern ganz in der Nähe des Baden-Airports. "Als einziger Treffpunkt blieb uns noch der Friedhof", erinnert sich Peter Günther an die trostlose Zeit zurück. Als alle Bemühungen, in dem kleinen Ort wieder einen Laden zu etablieren, an wirtschaftlichen Überlegungen gescheitert waren, nahmen die Leiberstunger das Thema Nahversorgung selbst in die Hand (siehe 4 Fragen an...). Aus dem Ortschaftsrat heraus gründete sich eine Genossenschaft mit Peter Günther an der Spitze, die seit fast zwei Jahren mit wachsendem Erfolg auf 49 Quadratmetern einen eigenen Dorfladen betreibt. Nicht nur die älteren Menschen decken sich dort mit dem Tagesbedarf ein, Jung und Alt treffen sich im neuen Mittelpunkt von Leiberstung beim Einkauf. "Wir haben die neue Dimension von Tante Emma entdeckt", jubelt Ortsvorsteher Alexander Naber. Auf die Frage nach dem Erfolgsrezept muss Vorstand Peter Günther nicht lange überlegen: "Es ist nicht irgendein fremder Laden - nein, es ist unser Laden".

Ein ganzes Dorf besitzt und betreibt ein Lebensmittelgeschäft - "so etwas ist ein absoluter Glücksfall", weiß Gabriele Ostertag. Denn das Thema Lebensmittelversorgung auf dem Land ist äußerst komplex, wie sich gestern bei einer Tagung des Regionalverbandes Mittlerer Oberrhein und der Industrie- und Handelskammer Karlsruhe zeigte. Dies beginnt bei den Kunden. Die Deutschen sind auch im Alter immer mobiler und sie wollen beim Essen sparen. Nirgendwo in Westeuropa sind die Lebensmittelpreise so niedrig wie hierzulande. Weil damit auch die Gewinnspannen immer mickriger werden, ziehen sich die großen Handelsketten aus der Fläche zurück. Spezialisten wie Wolfgang Seiler, der Expansionsleiter von Edeka Südwest, reden dann ganz gerne von "Grenzertragsstandorten". Das sind jene Teilorte oder Dörfer, wo sich ein Lebensmittelgeschäft gerade noch so lohnt. Bei einem Vollsortimenter mit 1 400 Quadratmeter Fläche, eigenen Bedientheken und einer "normalen Konkurrenzsituation" - sprich: einem Discounter - benötige man inzwischen ein direktes Einzugsgebiet von 7 000 Einwohnern.

Doch wie können Bürgermeister und Gemeinderäte den Abwärtstrend stoppen? Soll der Steuerzahler für den Erhalt der Wohlfühlgemeinde vielleicht sogar Subventionen an die verbliebenen kleinen Einzelhändler zahlen? So abwegig ist der Gedanke gar nicht, wie GMA-Geschäftsführer Stefan Holl berichtet. In Tirol bekommt der Tante-Emma-Betreiber immerhin 2 500 Euro pro Jahr aus der Staatskasse, wenn er sich verpflichtet, sein Geschäft mindestens fünf Jahre lang weiterzubetreiben.

Direkte Zuschüsse stoßen jenseits der Alpen auf keine Gegenliebe. Viel wichtiger sei es, dass die Kommunen bei Neuansiedlungen viel Hilfestellung leisten, heißt es. Und die Bürgermeister sollten sich nicht immer nur an die "üblichen Verdächtigen" wenden, sagt Gabriele Ostertag und meint damit die Branchengrößen wie Rewe, Edeka samt der Discounter Lidl und Aldi. Zu den neuen kreativen Konzepten zählen die Hofläden, deren Zahl immer weiter zunimmt und die sich vor allem der ökologischen Erzeugung verschrieben haben. Auf Expansion setzen auch die CAP-Märkte, die viele Behinderte beschäftigen und seit der Gründung im Jahr 1999 in Herrenberg bundesweit 90 neue Standorte eröffnet haben. Apropos Kreativität: Könnte die Lebensmittelversorgung auf dem Land nicht mittelfristig über Internet-Portale abgewickelt werden? Die Experten schütteln zumindest bislang den Kopf. "Frische Lebensmittel werden auch in Zukunft nicht online eingekauft", sagt IHK-Vizepräsident Roland Fitterer, der in Mittelbaden und der Südpfalz insgesamt sieben Geschäfte betreibt. Lieferung von Lebensmitteln ja. Bestellung im Internet nein - so lautet auch die Meinung von Edeka-Expansionsleiter Seiler. Thomas Heckmann von den CAP-Märkten antwortet auf die Frage folgendermaßen: "Meinen Wurstsalat und die Tomaten will ich mit eigenen Augen sehen. außerdem kann ich im Internet nicht mal eben mit anderen Kunden ein Schwätzchen halten."

EIGENINITIATIVE: Im Schwäbisch Haller Teilort Gottwollshausen wurde einer der ersten Dorfläden als Genossenschaft gegründet. An diesem Vorbild orientierten sich die Einwohner des Sinzheimer Ortsteils Leiberstung. Auch andere Orte zeigen Interesse an dem Konzept.
EIGENINITIATIVE: Im Schwäbisch Haller Teilort Gottwollshausen wurde einer der ersten Dorfläden als Genossenschaft gegründet. An diesem Vorbild orientierten sich die Einwohner des Sinzheimer Ortsteils Leiberstung. Auch andere Orte zeigen Interesse an dem Konzept. Fotos: Melchert/GMA

Zitate

"Moralische Appelle an den Bürger sind immer dann schwierig, wenn die Diskussionen über die Schließung des letzten Tante-Emma-Ladens auf dem Aldi- oder Lidl-Parkplatz geführt werden."
Stefan Holl, Geschäftsführer der Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung.

"Brötchen, Fleisch und andere Frischeprodukte werden auch in Zukunft nicht über das Internet gekauft werden."
Wolfgang Seiler, Expansionsleiter bei Edeka Südwest.

"Ohne Subventionen wird es bei der Nahversorgung auf Dauer nicht gehen."
Josef Offele, Vorsitzender des Regionalverbands.

"Kleine Anbieter haben es schwer, obwohl sie das besondere Flair ausmachen."
Gerd Hager, Direktor des Regionalverbands.

Infos im Internet
www.leiberstung.de, www.bioland.de, www.unsere-dorflaeden.de

 

4 Fragen an...

... Alexander Naber, der als Ortsvorsteher Von Sinzheim-Leiberstung auch ehrenamtlich als Aufsichtsratsvorsitzender des genossenschaftlichen Dorfladens tätig ist.

1. Wie kam es zu der Idee, einen Dorfladen als Genossenschaft zu betreiben?

Naber: Wir hatten in unserem 870-Einwohner-Dorf Leiberstung seit den 80er-Jahren kein eigenes Lebensmittelgeschäft mehr. Nachdem ein Dorfladen auf Investorenbasis nach fünf Jahren wieder dichtmachen musste, hat die Idee eines gemeinschaftlichen Geschäfts eigentlich alle überzeugt. Eine weitere Chance hätten wir auch nicht gehabt.

2. Wie rechnet sich ihr Geschäftsmodell?

Naber: Wir werden das zweite Geschäftsjahr mit einem Gewinn abschließen. Normalerweise benötigt man für ein derartiges Lebensmittelgeschäft mindestens 1 000 Einwohner, um rentabel wirtschaften zu können. Bei uns funktioniert das nur durch das hohe ehrenamtliche Engagement.


3. Was bringt der Genossenschaftsgedanke?

Naber: Wir haben 203 Anteilseigner, es ist also praktisch jede Familie an unserem Dorfladen beteiligt. Dadurch fühlt sich jeder verantwortlich. Der Großeinkauf auf der grünen Wiese findet zwar nach wie vor statt, aber der tägliche Bedarf wird vor Ort gekauft. Davon profitieren alle. Unser Dorf bleibt dadurch ein lebenswerter Wohnort - gerade für die Senioren. Und unsere Preise unterscheiden sich kaum von denen der Discounter.

4. Was verkaufen Sie vor allem im Dorfladen?

Naber: Backwaren, Fleisch und Wurst machen 70 Prozent des Umsatzes aus. Wir setzen dabei auf regionale Qualitätsprodukte. Und unser Dorfladen hat sich zu einem beliebten Treffpunkt entwickelt, wo man auch gerne mal ein
Pläuschchen hält. raha/Foto:pr