vom 9.5.2001
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Gasthaus "Rössel" aus Leiberstunger Ortsbild verschwunden
Das Fremdenbuch erinnert an die lange Wirtshausgeschichte
Beim Abriss fand sich das Meldebuch in einer Leinentasche
 
Von unserem Mitarbeiter Wilfried Lienhard
 
Sinzheim-Leiberstung. Jahrzehnte lag es unbeachtet in einer Ecke. Aus den Augen, aus dem Sinn: Niemand dachte mehr an das Buch, das zu einem Dokument des Leiberstunger Lebens wurde. Jetzt, da das Haus, dessen Geschichte es über 100 Jahre mitgeschrieben hat, abgerissen wurde, tauchte das "Fremdenbuch" wieder auf.

Das Gebäude, das der Abrissbagger aus dem Ortsbild radiert hat, ist das altehrwürdige Gasthaus "Rössel",  mit dem nun eine jahrhundertealte Institution verschwand. Seit dem April des vergangenen Jahres war der Stammtisch verwaist, die Gespräche über die große und kleine Welt sind verstummt.

Elsa Frietsch, die "Rössel-Wirtin" hatte aus Krankheitsgründen den Schlüssel umgedreht, erzählt ihr Sohn Paul. Für immer sollte es noch nicht sein, sie wollte ihren Platz hinter dem Tresen wieder einnehmen. Aber dann entschied sie sich, mittlerweile immerhin 75 Jahre alt, doch dazu, das Kapitel Rössel definitiv abzuschließen. Im April wurde das Haus abgerissen. Jetzt soll im kommenden Jahr ein Wohnhaus an der Stelle des ehemaligen Gasthauses entstehen.

Bei den Abbrucharbeiten fanden sich einige Zeugnisse der langen Rössel -Tradition. Dazu gehörte eine Ahnentafel, die bis ins Jahr 1800 zurückreichte. Paul Frietsch entdeckte außerdem einen Balken mit der Jahreszahl 1715. Ist das ein Hinweis auf das Alter der Gastwirtschaft? Die Frage bleibt unbeantwortet. Es sind keine genauen Daten bekannt. Möglicherweise war der Balken mit der Zahl schon einmal in einem Haus eingebaut gewesen und war später wieder verwertet worden.

Die Akten der Leiberstunger Ortsververwaltung, die zurzeit beim Kommunalen Archivverbund in Neusatz lagern, belegen die Rössel - Existenz bis 1825. In diesem Jahr stand im Großherzogtum Baden eine Bestandsaufnahme der Wirtschaftsrechte an. Die Bezirksämter schickten entsprechende Anfragen an die Bürgermeisterämter. Leiberstung meldete mit "Pflug" und "Rössel" zwei Wirtshäuser. In beiden Fällen sei zwar kein Datum bekannt, wann die Schankgenehmigung ausgestellt wurde. Sicher aber sei, dass die beiden Häuser dieses Recht seit "unvordenklichen" Zeiten besäßen. Was das jedoch konkret heißt, ob es 20, 50, 100 oder noch mehr Jahre sind, bleibt Spekulation. Sicher dagegen ist, dass der Rössel-Wirt des Jahres 1835 Anton Droll hieß.

Er dürfte auch jener Wirt gewesen sein, der das Fremdenbuch anfing. Als Paul Frietsch vor dem Abrissbeginn das Haus inspizierte, fand er eine Leinentasche, in der das 1828 begonnene Fremdenbuch steckte. Penibel listete es auf, wer wann im "Rössel" übernachtete, wo er herkam, wo er hinwollte. Der erste, der so verzeichnet ist, war ein Jacob Kayser. Er stammte aus Sachsen, seine Reise führte von Freiburg nach Karlsruhe.
Eine illustre Gästeschar quartierte sich gelegentlich in Leiberstung ein. Die Heimat von Gotthelf Dobel etwa war Kopenhagen. Doch auch Reisende in kleinerem Rahmen hat das Buch festgehalten. So führte eine Tour etwa von Stollbofen nach Eisental. Etwa zehn Gäste, die übernachteten, verzeichnete die Gastwirtschaft in den Anfangszeiten pro Jahr. Alljährlich studierte die Polizei die Eintragungen im Fremdenbuch.

Später war auch der Beruf der Reisenden angegeben. Überwiegend sind es Handwerker, die Station in Leiberstung machten, Indiz für die Wanderschaft der Handwerksgesellen. Der erste Rössel-Gast des Jahres 1900 (mittlerweile war die Familie Frietsch Betreiber der Wirtschaft) war etwa ein Bäcker.
Die Eintragungen enden 1954. Fünf Jahre zuvor war der Dachstuhl abgebrannt und neu aufgebaut worden. Das als Nachtquartier für Durchreisende bestimmte Zimmer erhielt eine neue Bestimmung. Denn zu dieser Zeit blühte in Leiberstung der Tabakanbau. Das frühere Fremdenzimmer nutzte jetzt der Tabakbauverein.

Hier, so erinnert sich Paul Frietsch legten inden 50er und 60er Jahren die Mitglieder des Tabakbauvereins die Pflanzenproben aus, und die Aufkäufer kamen, um Havanna oder Geudertheimer aus "Klein-Sumatra", wie Leiberstung wegen seiner führenden Rolle im Tabakanbau genannt wurde zu testen.
Während das Nachtschattengewächs Tabak das Leiberstunger Leben immer mehr bestimmte, geriet das Rössel-Kapitel Übernachtungen in Vergessenheit: "Von dem Buch wusste niemand mehr etwas", sagt Paul Frietsch. Jetzt soll es vorerst noch in Leiberstung bleiben.

Wenn einmal ein Heimatmuseum in Sinzheim eingerichtet sein wird, so Paul Frietsch, dann soll das Gästebuch aus Leiberstung dort als Dauerleihgabe einen Platz finden.